Medizinische Versorgung für Alle?

Methoden, Wissen und Handlungskompetenz zu globaler Ungerechtigkeit in medizinischer Versorgung am Beispiel der Corona Pandemie

glokal e.V. arbeitet nun seit gut 15 Jahren in der Erstellung von machtkritischen Bildungsmaterialien insbesondere zu postkolonialen sowie rassistischen Kontinuitäten und widerständigen Perspektiven von BIPOC´s. In unserem neuen Projekt “Medizinische Versorgung für Alle ? Methoden, Wissen und Handlungskompetenz zu globaler Ungerechtigkeit in medizinischer Versorgung am Beispiel der Corona Pandemie” widmen wir uns den Verstrickungen von kolonialen und rassistischen Kontinuitäten im Bereich der Medizin. Zudem möchten wir Handlungsempfehlungen / Forderungen und widerständige Perspektiven von BIPOC´s und Verbündeten sichtbar machen.

Ziel ist es, durch die im Projekt erstellen Bildungsmaterialien und anschließende Workshops medizinisch Tätige, die in den Globalen Süden reisen oder hier mit Geflüchteten/BIPoCs arbeiten, für die Problematik von Rassismus in der Medizin zu sensibilisieren und ihnen alternative Handlungsmöglichkeiten an die Hand zu geben. Hierzu werden wir 2023 im Rahmen von Rechercheworkshops Materialien erstellt.
In 2024 sind Testworkshops geplant, in denen das entwickelte Material an der Zielgruppe Medizinisch international Tätige angewendet wird und bei denen ihr als potentielle Multiplikator*innen aktiv werden könnt bzw. eure Arbeit dort präsentieren. Über eine langfristige Kooperation würden wir uns freuen. Da das Thema noch sehr wenig behandelt ist in Deutschland, ist das ganze noch explorativ aufgebaut und wird auch sehr wahrscheinlich nach der Projektlaufzeit bis Ende 2024 bei uns weiter geführt werden.

Um euch unsere Perspektive noch etwas zu verdeutlichen, hier ein Ausschnitt aus dem Projektantrag:
“Entwicklungspolitische Bildungsarbeit zu ungleicher Behandlung von Menschen in der Medizin: ausgehend von der Corona Pandemie lassen sich viele historische Kontinuitäten aufzeigen, beispielsweise wie der Globale Süden schon immer als Experimentierfeld für Medikamente diente oder wie westliche Mediziner*innen als White Savior auftreten. Weiße Mediziner*innen und Medizin-Student*innen reisen in den globalen Süden und werden dort als Expert*innen mitunter in Einsätze entsendet, in denen Sie aus verinnerlichter Dominanz heraus, ihre persönlichen Kompetenzen überschätzen. Dies kann mitunter immensen und teilweise tödliche Schäden zur Folge haben, wenn die genannte Medizingruppe sich in Einsätze begibt, die ihrer tatsächlichen Handlungskompetenz sowie ihrem Ausbildungsgrad nicht entsprechen. Die Ausbildung von medizinischem Personal, insbesondere von entwicklungspolitisch Engagierten aus dem Globalen Norden, ist nur unzureichend auf Einsätze im Globalen Süden zugeschnitten. Beispielhaft ist hier die Normierung der medizinischen Angebote (Stichwort Hautkrebs) für weiße Menschen zu nennen. Diese stellt eine Bedrohung für die Gesundheit von nicht weißen Menschen (nicht nur) im Globalen Süden dar. Zu diesen und anderen Themen wollen wir mit Bildungsangeboten zum Thema Medizin für Alle! sensibilisieren und alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigen.

Das Wissen über globale und lokale Machtverhältnisse hat in der und durch die entwicklungspolitische Bildungsarbeit in den letzten 10 Jahren einen enormen Zuwachs erlangt. Dennoch stellt Bendix (2018) fest, dass die elementare Verbindung von westlichem Modernitätsdenken, Kolonialismus und Entwicklung pädagogisch kaum thematisiert wird, obwohl postkoloniale Kritik in den letzten Jahren Einzug in die Lehrmaterialen gehalten hat. Auch auf Repräsentationsebene seien rassistische und stereotype Darstellungen des Südens oder des afrikanischen Kontinents weniger verbreitet, dennoch würden deutsche Akteur*innen nach wie vor als die Helfer*innen und Retter*innen der Hilflosen dargestellt. Dies hat zur Folge, dass weiterhin eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit bspw. Partner*innen aus dem Globalen Süden oder Menschen der Diaspora kaum möglich ist. Werden diese Menschen, wenn auch oft unbewusst, von der Mehrheitsgesellschaft eher mit den „Opfern“ assoziiert. Zum anderen verschleiert diese Struktur auch oft den Blick auf Handlungsmöglichkeiten, weil die Menschen aus dem/im Globalen Süden und ihre innovativen Umgangsstrategien nicht als selbstbestimmte Akteur*innen wahrgenommen werden und ihre Lösungsansätze so kein Gehör im Globalen Norden finden.

Diese Frage der Repräsentation ist eng mit der grundsätzlichen Frage der globalen Ungleichverteilung von medizinischer Versorgung, die sich besonders in der Coronapandemie gezeigt hat. Forderungen nach der Abschaffung der Impfpatente wurden laut (https://www.medico.de/impfsoli). Auch hier lässt sich Aufzeigen, dass es über Jahrhunderte aufrechterhaltene Strukturen sowie westliche Systeme wie das Patenrecht sind, durch die beispielsweise eine globale Produktion von Impfstoff verhindert oder zumindest erschwert wird. Insbesondere die Humanmedizin und ihre Didaktik, die Zulassung von Medikamenten, die Erprobung von Nebenwirkungen, die Impfmittelforschung sowie die globale Verteilung von medizinischen Gütern, insbesondere von Impfmitteln, ist kritisch und feministisch auf den Prüfstand zu stellen.
Das der Globale Süden schon immer als Experimentierfeld für Medikamente dient(e) (Bonhomme 2020) hat in der Corona Pandemie eine traurige Renaissance erhalten. Die Corona Pandemie hat noch einmal verdeutlicht, dass der medizinische Bereich nur unzureichend in seinen Verstrickungen zu kolonialen Kontinuitäten diskriminierungssensibel aufgearbeitet und Einzug erhalten hat im entwicklungspolitischen Kontext.

Drei Jahre nach Ausbruch der COVID-19 Pandemie lässt sich konstatieren, dass rund 80%, der Weltbevölkerung in globalen Süden noch immer keinen Zugang zu Coronaschutzimpfungen haben. Die Vorbestellungen im globalen Norden von Impfdosen zur Eindämmung der Pandemie betrugen das Dreifache der tatsächlichen Bevölkerung. Im globalen Norden wurden allein 2021 rund 1,3 Milliarden Dosen ungenutzt in Lagerbeständen gesichert. Die COVAX Strategie der WHO führte zu einer globalen ungleichen Verteilung, in der Menschen im Globalen Norden einen vermehrten Zugang zu Impfmitteln im Vergleich zu Menschen im Globalen Süden haben. Die Strategie sah es vor bis Ende 2022 70% der Weltbevölkerung immunisiert zu haben. Das Ziel kann aktuell lediglich im Globalen Norden erreicht werden. Auf dem afrikanischen Kontinent konnten bis November 2022 rund 20 % der Bevölkerung durchimmunisiert werden, in Europa liegt der Wert bei rund 75%. Zusammenfassend ist festzustellen, dass Länder im Globalen Norden 2,7mal so viele Impfdosen zur Verfügung haben wie alle Länder, die durch die COVAX-Strategie versorgt werden sollten, obwohl diese Länder drei Mal so viele Einwohner*innen haben wie der globale Norden (vgl. data.one.org). In den letzten Jahren der Corona Pandemie konnte beispielsweise in Südafrika beobachtet werden, dass die medizinische Versorgung von BIPOC und anderen vulnerablen Gruppen schlechter aufgestellt ist im Vergleich zum Durchschnitt. Ein Beispiel: Die gängigen Puls-Oximeter-Messgeräte messen bei Schwarzen Menschen drei Mal ungenauer wie bei weißen Menschen. Dies führte zu einer ungleichen Diagnose bei der Sauerstoffsättigung von BIPOC Coronainfizierten. Durch diese Fehldiagnose wurden BIPOC öfters zu spät intubiert. In der Folge starben in Südafrika mehr BIPOC an Coronainfektionen im Vergleich zu weißen Menschen. Die Rheinlandpfälzische Zeitung Titelte 2021 „das Viruz aus Afrika“. Gemeint war eigentlich die Entdeckung der Delta-Variante durch Forschungsinstitut in Südafrika. Schwarze Menschen werden insbesondere im Gebiet der Dermatologie schlechter versorgt wie weiße Menschen. Die Humanmedizin im globalen Süden lehrt Symptome von Beispielsweise von Cellulitis, Hautkrebs, Kawasaki-Krankheit, Lyme-Borreliose oder Pityriasis Versicolor ausschließlich an weißen Körpern (vgl. www.blackandbrownskin.co.uk). BIPOC aus dem globalen Süden fordern dagegen nach einer Datenbank für rassismussensible Therapieformen und Institutionen sowie eine flächendeckende entwicklungspolitische Bildungsangebote zu der Verwobenheit von Rassismus und Medizin (https://www.borders-in-motion.de).

Entwicklungspolitische Bildungsarbeit zu ungleicher Behandlung von Menschen in der Medizin: ausgehend von der Corona Pandemie lassen sich viele historische Kontinuitäten aufzeigen, beispielsweise wie der Globale Süden schon immer als Experimentierfeld für Medikamente diente oder wie westliche Mediziner*innen als White Savior auftreten. Weiße Mediziner*innen und Medizin-Student*innen reisen in den globalen Süden und werden dort als Expert*innen mitunter in Einsätze entsendet, in denen Sie aus einem Helfer*innenkomplex heraus, ihre persönlichen Kompetenzen überschätzen. Dies kann mitunter immensen und teilweise tödliche Schäden zur Folge haben, wenn die genannte medizingruppe aus einem Helferkomplex heraus, sich in Einsätze begibt die ihrer tatsächlichen Handlungskompetenz sowie ihrem Ausbildungsgrad nicht einsprechen. Die Ausbildung von medizinischem Personal, insbesondere von entwicklungspolitisch Engagierten aus dem Globalen Norden, ist nur unzureichend auf Einsätze im Globalen Süden zugeschnitten. Beispielhaft ist hier die Normierung der medizinischen Angebote (Stichwort Hautkrebs) für weiße Menschen zu nennen. Diese stellt eine Bedrohung für die Gesundheit von nicht weißen Menschen im Globalen Süden da. Diese Realität widerspricht der Genfer Deklaration des Weltärztebundes in der es heißt „Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit […] zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Pateinten treten“.

Insbesondere die Humanmedizin und ihre Didaktik, die Zulassung von Medikamenten, die Erprobung von Nebenwirkungen, die Impfmittelforschung sowie die globale Verteilung von medizinischen Gütern, insbesondere von Impfmitteln, ist kritisch und feministisch auf den Prüfstand zu stellen, da hier noch immer die CIS-Männliche Norm maßgebend ist. Nebenwirkungen und Neuzulassungen von Medikamenten werden insbesondere an CIS-Männlichen Körpern erforscht. Dies hat mitunter tödliche oder gesundheitsschädigende Folgen für FLINTA Personen, da Beispielsweise Krankheitssymptome zu spät erkannt oder die Medikation zu stark eingestellt wird. Zudem sind überproportional CIS-Männer in den Positionen des Chefarztes oder Facharztes zu finden. Frauen, zB im globalen Süden (Patient*innen), müssen Ärzten (CIS-Männern) von geschlechtlichen Krankheiten erzählen. Dies kann ein Hindernis für erkrankte Patient*innen darstellen, sich überhaupt in Behandlung zu geben. Insbesondere in entwicklungspolitischen medizinischen Konstellationen kann es dazu kommen, dass Beratungs- oder Behandlungsgespräche dann nur in Anwesenheit einer zweiten FLINTA Person durchgeführt wird. Wenn diese zweite Person zu der ersten in einem familiären Verhältnis steht, kann dies erneut dazu führen, dass keine umfassende, detaillierte Beratung oder Behandlung durchgeführt werden kann. Oft fehlt es Mediziner*innen in entwicklungspolitischen Kontexten an Wissen über kulturelle Feinheiten des jeweiligen Einsatzgebietes. Beispielsweise teile uns ein Mitglied des medizinischen Personals einer Safe-and-Rescue-Organisation (Mittelmeer) mit, dass Sie in ihren Einsätzen irgendwann dazu übergegangen sind Traubenzuckertabletten zu verteilen, weil Vorort kulturelle folgende Denke verankert scheint: ein Arzt der keine Spritze oder Tablette gibt, ist kein guter Arzt/Ärztin.

Medizin spielte eine Schlüsselrolle beim Kolonialismus auf dem afrikanischen Kontinent. Auch renommierte deutsche Forscher wie zB Robert Koch hatten hier eine unrühmliche Rolle beispielsweise bei der Forschung zu Pocken, Malaria, Schlafkrankheit oder Cholera (Bonhomme 2020). So wurden Medikamente und Impfstoffe in der lokalen kolonialen Peripherie getestet jedoch wurden die Ergebnisse und Produkte der Forschung nicht flächendeckend lokal eingesetzt. Viel eher wurde der Einsatz strategisch genutzt um Kolonialmächten Vorteile zu verschaffen. Bei den Testungen kam es zu verheerenden Fehleinschätzungen und tödlichen Folgen etwa bei dem Einsatz des arsenhaltigen Mittels Atoxyl. Neben Koch sind die Geschichten vieler deutscher Tropenforscher aufzuarbeiten. Beispielsweise war Claus Schilling bereits 1905 in Togo in fragwürdige Experimente involviert. Jahre später infizierte er 1000 Häftlinge im KZ Dachau mit Malaria um weitere Forschungsexperimente durchzuführen. Auch Verbindungen zwischen Eugen Fischer, dem Gründer des Kaiser-Wilhelm-Instituts und Josef Mengele´s „Forschungen“ am Otto-Suhr-Institut von Berlin sind aufzuarbeiten (vgl. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus 1884-1945). Das Themenfeld der Medizin steht folglich in einer jahrhunderte-alten Verstrickung zu kolonialen und antisemitischen Kontinuitäten. Antisemiten im globalen Norden haben immer wieder in ihrer Propaganda Juden bezichtigt am Ausbruch von Krankheiten, wie etwa der Pest, Schuld zu haben. Deutsche Mediziner*innen und ihre Versuche im globalen Süden während der Kolonialzeit leisteten einen tödlichen Beitrag zur industriellen Massenvernichtung an den europäischen Juden während der Shoa. Insbesondere entwicklungspolitische Akteur*innen aus Deutschland und Berlin haben hier eine Verantwortung sich kritisch mit diesen verwobenen Geschichtsaspekten und den daraus resultierenden Kontinuitäten in die heutige Zeit zu befassen, um aus dieser kritischen Analyse heraus, praxisnahe Handlungsempfehlungen erarbeiten zu können.
Es lässt sich konstatieren: durch koloniale Kontinuitäten werden Schwarze Menschen in der medizinischen Versorgung unzureichend mitgedacht und schlechter versorgt. Zudem sehen sich BIPOC stigmatisierenden Diagnosen ausgesetzt, Stichwörter sind hier Beispielsweise der sogenannte Mongolenfleck oder der Morbus Mediterraneus. Diese stigmatisierenden Diagnosen können mitunter tödliche oder gesundheitsschädigende Folgen haben, da zT ernsthafte Krankheitsbilder zu spät erkannt und präventive Maßnahmen nur unzureichend getroffen werden können (Klein 2015) .

Über das Projekt “Medizinische Versorgung für Alle?” ist glokal e.V. nun offiziell assoziierter Kooperationspartner des Projektes “Empowerment für Diversität” der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

 


Das Projekt wird gefördert durch Engagement Global mit finanzieller Unterstützung des BMZ, sowie aus Haushaltsmitteln des Landes Berlin – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit.