Offener Brief an ASA und das Welthaus Bielefeld zur Broschüre: „Wo bitte geht’s nach weltwärts?“

Brief hier als PDF downloadbar

Von
glokal e.V., Chorinerstr. 6, 10119 Berlin, www.glokal.org

An
ASA Programm z.H. von Florin Feldmann Lützowufer 6-9 10785 Berlin
Welthaus Bielefeld e.V. z.H. von Georg Krämer August Bebel Str. 62 33602 Bielefeld

Berlin, den 20. April 2012

Betreff: Broschüre „Wo bitte geht’s nach weltwärts?“

Sehr geehrte Damen und Herren, im letzten Jahr ist uns immer wieder ihre Broschüre „Wo bitte geht’s nach weltwärts?“ begegnet. Diesbezüglich wenden wir uns heute schriftlich an sie. In diesem und im letzten Jahr haben wir mehrere Multiplikator_innen-Fortbildungen angeboten, um Kulturkonzepte im Globalen Lernen sowie in der pädagogischen Begleitung von weltwärts zu reflektieren.

Im Rahmen dessen wurde auch gängiges Methodenmaterial für diesen Bereich analysiert – u.a. auch ihre Broschüre. Ausnahmslos wurde diese von den jeweiligen Multiplikator_innen als sehr problematisch und rassistisch bewertet und auf jedem Seminar das Bedürfnis zur Intervention geäußert. Nicht nur durch die Teilnehmenden unserer Fortbildungen, auch von anderen Kolleg_innen und Auftraggebenden wurde an uns der Wunsch herangetragen, dass wir uns stellvertretend mit einem offenen Brief an ASA und das Welthaus wenden, um dieser Kritik Ausdruck zu verleihen.

Dem Wunsch nach Transparenz nachkommend, werden wir diesen Briefverkehr auf unserer homepage öffentlich machen.

Als wir uns die Herangehensweise und einzelne Übungen ihrer Broschüre zum ersten Mal angeschaut haben, waren wir sehr überrascht und an vielen Stellen entsetzt, was weltwärts-Freiwilligen über den Globalen Süden, das weltwärts-Programm und sich selbst als Freiwillige vermittelt wird: In den Texten und Methoden ihres Lehrmaterials werden durchgängig rassistische Stereotype über Menschen und Länder des Globalen Südens reproduziert. Während Menschen des Globalen Südens durchweg z.B. als korrupt, primitiv, unterentwickelt, unwissend, auf finanzielle und geistige Hilfe der Freiwilligen hoffend dargestellt werden, wird Weißen deutschen weltwärts-Freiwilligen suggeriert, dass sie sich in einer Überlegenheitsposition befinden, der gemäß sie handeln sollen.

Exemplarisch und schlaglichtartig legen wir im Folgenden ein paar Aspekte zum besseren Verständnis unserer Kritik dar: Der globale Süden wird in der Broschüre quasi als Leitmotiv durchgängig als „Dorf“ repräsentiert. Dies entspricht zum einen nicht den Fakten – denn seit 2007 leben mehr als 50% der Weltbevölkerung insbesondere im Globalen Süden im urbanen Raum – zum anderen entspricht es der kolonial-europäischen Praxis, Gesellschaften im Globalen Süden als weniger komplex, weniger modern, traditionell, naturverbunden und rückständig und in Hütten lebend zu beschreiben.

Die Übung (M7) „Phantasiereise“ erinnert stark an einen Kolonialroman. Hier begegnen Teilnehmende stereotype Vorstellungen über ländliches/naturnahes Leben im Globalen Süden. Mitgeliefert wird in der Traumreise zudem die koloniale selbstverherrlichende Phantasie, dass sich das „halbe Dorf“ versammelt, wenn ein_e weltwärts-Freiwillige_r ankommt und der „Dorfchef“ (dieser Begriff suggeriert auch, dass es sich um autokratische, patriarchale Herrschaftsstrukturen handelt) persönlich zum Abschied aus Dankbarkeit ein Geschenk überreicht. Es werden also nicht nur urbane Realitäten ausgeblendet (und die Tatsache, dass Tausende von weltwärts-Freiwilligen ihren Freiwilligendienst nicht in Dörfern absolvieren; und wenn, dann wahrscheinlich nicht in solchen Phantasie-Dörfern), sondern den Freiwilligen auch vermittelt, dass sie wichtige Persönlichkeiten „im Dorf“ sein werden und man nur auf sie und ihren Einsatz wartet.

Die Übungen zum Interkulturellen Lernen (M20 und M21) werden mit der Feststellung eingeleitet, dass es unterschiedliche „Kulturkreise“ gibt und es „unvermeidbar“ zu Konflikten kommt, wenn sie zusammentreffen. Als Basis für Interkulturelles Lernen dient also eine Theorie, die stark an Vorstellungen des „Clash of Civilizations“ des rechtspopulistischen Autors Samuel Huntington angelehnt ist. Kultur wird dabei als angeboren verstanden, als starr und homogenisierend, und ersetzt somit den Rassebegriff. In der Broschüre wird durchgängig davon ausgegangen, dass Kulturen einander entgegenstehen, wobei – so wird durch die Übungen implizit und explizit verdeutlicht – die deutsche Kultur jene ist, von der „die Anderen“ etwas zu lernen haben.

In der Übung M20 „Wie würdest du dich entscheiden?“ werden „Einheimische“ als Gegenpol zu den weltwärts-Freiwilligen konstruiert. Die Freiwilligen sollen sich angesichts der auf sie unweigerlich zukommenden Konflikte überlegen, wie sie sich jeweils verhalten würden. Die Fragen sind weitestgehend so formuliert, dass sozial erwünschte Antworten gegeben werden. Während die Anderen z.B. als unzivilisiert („Affenfleisch“ essend), unsensibel, unpünktlich, lügnerisch, gewalttätig, frauenverachtend und korrupt beschrieben werden, wird weltwärts-Freiwilligen (und damit auch Deutschland) das Gegenteil zugeschrieben.
Die Übung ist ein Paradebeispiel für den weit verbreiteten kolonialen Blick, mit dem Menschen des Globalen Südens im Norden als der negativ Pol des Eigenen konstruiert und konsequent mit moralisch-ethischen, sozialen und politischen Defiziten in Verbindungen gebracht werden. Weltwärts-Freiwillige werden im gleichen Atemzug als zivilisiert, emanzipatorisch und moralisch integer idealisiert. Einher geht die Begründung für ihre Daseinsberechtigung, beispielsweise als personifizierter Human Rights Watch.

In dem fiktiven Brief „Bleibt zu Hause“ wird sich auf den ersten Blick kritisch mit dem weltwärts-Programm auseinandergesetzt. Der Autor „S.“ schreibt aus einer  Süd-Perspektive und stellt den Sinn und Zweck von weltwärts in Frage. Er kritisiert u.a. die paternalistische und allwissende Haltung der Freiwilligen, stellt deren Kompetenz in Frage, führt ihnen ihre Privilegien vor Augen und rät ihnen, zu Hause zu bleiben, wo es ja auch Möglichkeiten gebe, sich zu engagieren.

Die erste der begleitenden Fragen, über die sich die Freiwilligen nach dem Lesen des Briefes Gedanken machen sollen, lautet „Wie empfindet ihr diesen provokatorischen Text?“. Die darin liegende vorwegnehmende Bewertung, dass es sich um eine “Provokation” handelt, bestimmt auch den Ton der weiteren Begleitfragen. Als nächstes soll überlegt werden, welche Verhaltensweisen hilfreich sein könnten, um „diese Vorwürfe zu entkräften“.
Es geht also nicht um eine wirkliche offene Auseinandersetzung mit Kritik, die durchaus auch von Partner_innen im Globalen Süden am weltwärts-Programm geäußert wird, sondern um ein Argumentationstraining, wie diese delegitimiert werden kann. Eine offene Kritikfähigkeit mit Lerneffekten für Freiwillige wird bereits in Deutschland verhindert. Die implizite Annahme, dass der Kritik an weltwärts durch bestimmte, individuelle Verhaltensweisen der Boden entzogen werden könne, lenkt ab von den machtvollen und kolonial-rassistischen Strukturen, die dem Programm per se inne wohnen, und schiebt die alleinige Verantwortung auf die einzelnen Freiwilligen.

Zu problematisieren sind jedoch nicht nur einzelne Methoden, es ist vielmehr die gesamte Perspektive und theoretische Basis der Broschüre, die eine kolonial-rassistische Haltung zum Ausdruck bringt und nicht im Sinne des weltwärts-Programms sein kann. Mit diesem Brief kommen wir dem Wunsch von zahlreichen Trainer_innen, Ehrenamtlichen und Auftraggebenden nach und bitten sie, den Vertrieb der Broschüre ab sofort einzustellen.

Desweiteren wurde konkret darum gebeten, die weitere Anwendung des Lehrmaterials durch eine E-Mail oder in anderer Form weitestgehend einzuschränken, indem zumindest die Käufer_innen, welche bereits Exemplare erhalten haben, auf die problematischen Effekte aufmerksam gemacht werden: nämlich einer Verfestigung und Reproduktion von Stereotypen und Rassismus sowie die Vermittlung einer angeblich überlegenen Weiß-Deutschen „Kultur“ und ihrer Werte und Normen, die einer Begegnung auf Augenhöhe entgegensteht. Wir würden uns über eine Reaktion von Ihnen freuen und stehen ihnen für weitere Auseinandersetzungen mit der Thematik gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen glokal e.V.
im Namen vieler Multiplikator_innen der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit