Trivialisierung der Shoah bei der Deutschen Bahn

Schon im vergangenen Oktober gab die Deutsche Bahn bekannt, einen ihrer neuen ICE 4-Hochgeschwindigkeitszüge nach Anne Frank zu benennen. Diese Entscheidung wurde weithin diskutiert und hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen, ist aber zumeist heftig kritisiert worden. Die Namensvorschläge waren in einer offenen Ausschreibung gesammelt worden. Entschieden hat schließlich eine sechsköpfige Jury aus PR- und Marketingfachleuten unter Vorsitz der leitenden Konzernhistorikerin Susanne Kill.

Beteiligt war zudem Gisela Mettele, Professorin für Geschlechtergeschichte an der Universität Jena. Die Mitwirkung einer unabhängigen Historikerin wirft ein besonderes Licht auf die Entscheidung. Erstaunlich ist insbesondere die von Frau Mettele geäußerte und vom Spiegel kolportierte Auffassung, alle ausgewählten Personen hätten gemeinsam gehabt, „neugierig auf die Welt“ gewesen zu sein. Allen Mitgliedern der Jury, besonders aber einer renommierten Historikerin, sollte bewusst sein, dass die Deutsche Bahn die Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn ist, die sich bis heute weigert, Entschädigungen für die Deportation von Millionen von Menschen zu bezahlen und die darüber hinaus etwa das Projekt „Zug der Erinnerung“ erheblich in seiner Arbeit behindert hat:

Vor diesem Hintergrund erscheint die im Tagesspiegel gestellte Frage, „[w]elche schlechten Motive sollte die Bahn auch haben?“, doch reichlich naiv. Die Benennung eines Zugs nach Anne Frank lässt sich nämlich kaum anders verstehen als ein weiterer Versuch der Deutschen Bahn, sich ihrer historischen Verantwortung durch billige und auf Affekt setzende Symbolik zu entziehen, statt dieser durch angemessene Entschädigungszahlungen und die verantwortungsvolle Unterstützung historischer Forschungen zu ihrer eigenen Geschichte nachzukommen. Nur noch zynisch ist dann auch die Erwiderung der Bahn auf die Kritik: „Die DB entschuldigt sich, wenn jemandes Gefühle verletzt wurden“. Diese grenzenlose Trivialisierung des hier diskutierten Menschheitsverbrechens der Shoah entspricht einem aus der Politik allzu bekannten Reaktionsmuster, das immer dort zum Tragen kommt, wo man argumentativ kapitulieren muss, aber keine Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen will.

Das Verhalten der Bahn ist angesichts ihres bisherigen Umgangs mit der eigenen Konzerngeschichte allerdings auch nicht weiter überraschend. Zeigen lässt sich daran aber, was passieren kann, wenn Wissenschaftler*innen ihre Distanz zu solch offiziösen Anliegen eines großen Konzerns aufgeben. Es wäre Aufgabe wissenschaftlicher Arbeit, solche Praktiken zu hinterfragen und zu kritisieren. Die Aussage über die unfreiwilligen Namensgeber*innen der neuen Züge aber ist eine Nivellierung der Biographie von Anne Frank. Ernsthaftes historisches Verstehen und verantwortungsvolle geschichtliche Vermittlung verschwinden schlichtweg hinter einer solchen Verallgemeinerung, all diese Personen seien „neugierig auf die Welt“ gewesen. Dahinter wird die historische Spezifik ihrer Biographien unsichtbar: Während Anne Frank sich in Amsterdam versteckt halten musste und schließlich in den Tod deportiert wurde, befriedigte der ebenfalls namensgebende Ludwig Erhard seine Neugierde „auf die Welt“ als Leiter eines „Instituts für Industrieforschung“, mithin in herausgehobener Position im Gefüge des NS-Staats. Die biographischen Wünsche und Pläne von Anne Frank lassen sich auf einen solchen inhaltsleeren Satz sicher nicht reduzieren.

Nur selten thematisiert wurde im Übrigen, dass es dabei nicht nur um Anne Frank geht, sondern auch um zahlreiche andere ausgewählte Persönlichkeiten. Während die Namen von Karl Marx oder Thomas Mann ohnehin für jeden Blödsinn herhalten müssen, ist die Auswahl von Dietrich Bonhoeffer und den Geschwistern Scholl, aber auch die von Hannah Arendt und Erich Kästner, in diesem Zusammenhang ebenso kritikwürdig.

Eine reflektierte historische Auseinandersetzung mit den je individuellen Verfolgungserfahrungen dieser Menschen und den an ihnen verübten und durch den Namen Anne Frank in besonderer Weise symbolisierten Verbrechen wird durch die Benennung der Züge nicht erleichtert. Die Absicht der Deutschen Bahn, ihrer historischen Verantwortung zu entgehen, hingegen leider schon.

Autor: Michael Becker