Chandra-Milena Danielzik argumentiert, dass die derzeitigen Mainstream-Diskurs in der BRD aka die Selbstprofilierung als ‘Flüchtlingshelfer’ und als ‘Willkommenskultursieger’ die Legitimation repressiver Asyl- und Migrationspolitik (mit-)ermöglicht. Sie fragt darüber hinaus nach Versäumnissen der deutschen, Weißen Linken in den letzten Jahren und inwiefern heutige Reaktionen (in)adequat sind.
[Dieser Kommentar wurde Mitte September 2015 verfasst und muss im Kontext der damaligen Ereignisse gelesen werden.]
Ich selbst bin seit Anfang September 2015 nicht in Europa und lese zur Zeit nicht intensiv die deutschen Medien. Meine Perspektive kommt also im mehrfachen Sinne aus der Ferne, aber vielleicht ist eine Außenperspektive und sind aus der Ferne gesammelte Eindrücke ja auch hilfreich.
Jemand, der gerade in Frankreich ist, schrieb mir: “Hier bewundern viele die deutsche Willkommenskultur und ärgern sich über die Abschottungspolitik von Hollande.” Linke Aktivist*innen in Indien sagen mir, dass Deutschland ja sehr gut mit den Geflüchteten umginge und anders als andere Länder eine sehr flüchtlingsfreundliche Gesetzeslage und Politik habe.
Die Welt ist begeistert von Deutschland.
Großartig.
Regierungspolitik und Nazis haben anscheinend zumindest den öffentlichen Migrations- und Asyldiskurs nach rechts verschoben und dabei auch noch gleich alles zertrampelt, was (nicht erst) seit den letzten 4 Jahren Geflüchteten-/Migrationsproteste in Deutschland aufgebaut, umformuliert, neugesetzt, erkämpft wurde. Wir waren schon mal an ganz anderen Punkten. Nun sind bereits alle, die keine Unterkünfte eigenhändig anzünden und nur mal eben das Recht auf Asyl aushebeln, progressiv in Fragen von Flucht- und Migration. Und die organisierte Linke? Wirft sich zunächst strategielos und aktionismusorientiert in die Gemengelage. Und das erachte ich als Fehler. Es ist wichtig, Strukturen aufzubauen, die sich an einer überregionalen Vernetzung beteiligen, um schnell Schutz, Unterstützung und Präsenz mobilisieren zu können. Es braucht jedoch auch einen Blick auf das, was gesamtgesellschaftlich geschieht, und wir verpassen gerade den Moment – der sich nicht erst seit vorgestern anbahnt –, an dem es wichtig ist, wach zu sein und sowohl diskursiv zu intervenieren als auch konkret in die Gesetze, die gerade beschlossen werden; und diese sind ein viele Menschen zerwalzender Rollback.
Denn: Das Merkelsche Aber, welches wir in regierungspolitischen Stellungsnahmen zu hören kriegen, ist nicht nur reine Semantik. Vielmehr bedeutet es: “Flüchtlinge sind willkommen, a b e r nur die Guten; a b e r nur die, die es verdient haben; die Menschenwürde ist unantastbar, a b e r nicht unbedingt die von allen Menschen; das Leben des Menschen gilt es zu schützen, a b e r nur wenn es durch Kriegswaffen bedroht wird.” … Da kann man ja glatt zur Humanistin werden, wenn an einiger Menschen Leben so freizügig ein Aber angehängt wird …. Deswegen sei es noch wichtiger, dass wir die ‘Nicht-Guten’ auch schön abschieben, damit wir mehr Kapazitäten für die ‘guten Flüchtlinge’ haben. Dieses Aber wird gerade in Gesetze gegossen und zwar während wir Treffen im SO36 abhalten und darüber reden, wie wir Unterkünfte gegen Nazis verteidigen und Konvois organisieren. Nazis sind gefährlich und schlimm und mir wird schwindelig, wenn ich daran denke. … Und – nicht aber – diese und kommende Gesetze sind der Horror!
Meine These ist, dass die derzeitigen Mainstream-Diskurs aka die Selbstprofilierung als ‘Flüchtlingshelfer’ und als ‘Willkommenskultursieger’ die Legitimation repressiver Asyl- und Migrationspolitik (mit-)ermöglicht. Auf dem Moralposten, auf welchen Deutschland sich gerade verfrachtet hat, lässt sich vermeintlicherweise gerecht beurteilen, wer die ‘Guten’ sind und wer die ‘Asylschmarotzer’. Flüchtlingsfreunde dürfen abschieben. Die einen werden zur Ausweisung der anderen genutzt. Divide and Rule. Eine altbekannte Herrschaftsstrategie. Und genau an dieser Stelle muss linke Politik sich verhalten und darf sich nicht einschläfern lassen: “Die meisten Asylbewerber stammten im ersten Halbjahr 2015 aus Syrien (34.428), aus dem Kosovo (31.400), Albanien (22.209) und aus Serbien (15.822). Mehr als 40 Prozent der Erstanträge werden von Menschen aus den westlichen Balkanländern gestellt. Ihre Ablehnungsquote liegt bei etwa 90 Prozent [Herv. der Autorin].” (Tagesschau vom 28.07.2015).
Die Wirkmacht eines Diskurses liegt darin, Widersprüche so miteinander zu verknüpft, dass sie nicht mehr als sich gegenseitig ausschließend wahrnehmbar sind, sondern kausal erscheinen. Hier aus dem Koalitionsausschuss am 6.9.15: “Diese große Welle der Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit, aber auch die wirtschaftliche Stärke unseres Landes [wow, es ist tatsächlich der Kapitalismus, der uns ermöglicht gut zu anderen Menschen zu sein, Anm. der Autorin] sind der Grund dafür, dass wir diese Herausforderung bewältigen können. Wir sind den Menschen unseres Landes dankbar dafür. Klar ist aber [ABER!, Anm. der Autorin] auch, dass wir diese Herausforderung nur bewältigen können, wenn wir Erfolge im internationalen Kampf gegen die Fluchtursachen (Bürgerkriege, Destabilisation ganzer Staaten und terroristische Gefahren) erzielen.” Im gleichen Papier wird daraus der folgende Schluss gezogen: “Deutschland steht zu seinen humanitären und europäischen Verpflichtungen und erwartet dies ebenso von seinen Partnern. Dazu gehören die Einhaltung der Dublin III-Verordnung […]. Die am Wochenende getroffene Aufnahmeentscheidung von Deutschland und Österreich soll eine Ausnahme bleiben.” Außerdem: “Wir werden prüfen, ob ähnlich wie in Niger weitere Anlaufstellen und Einrichtungen in Nordafrika eingerichtet werden können. … Visastellen in den Auslandsvertretungen werden verstärkt.” Letzteres heißt nichts anderes als die EU-Grenzen weiter zu externalisieren und somit die Leute bereits da abzufangen, wo sie herkommen. Erst letzte Woche, in welcher sich Deutschland in seiner flüchtlingshumanitären Großzügigkeit suhlte, wurde dies hier beschlossen: Aus dem Koalitionsausschuss vom 6.9.2015:
“3. FEHLANREIZE [sic!] BESEITIGEN:
- Bargeldbedarf in Erstaufnahmeeinrichtungen soll so weit wie möglich durch Sachleistungen ersetzt werden.
- Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten sollen bis zum Ende des Verfahrens in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben. [> das wird begleitet durch die Wiedereinführung der Residenzpflicht!, Anm. der Autorin]
- Die Auszahlung von Geldleistungen soll längstens einen Monat im Voraus erfolgen.
- Die Höchstdauer zur Aussetzung von Abschiebungen wird von 6 auf 3 Monate reduziert.”
Ein Spiegel-Kommentar zu dem vorhergegangenen Katalog von Gesetzesänderungen, fasst diese gut zusammen: “Im Kern sieht das Papier vor: 1) Flüchtlinge aus Balkanstaaten nach ihrer Ankunft länger in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu halten. Dies soll, nach Beendigung der Asylverfahren, das Ende des Aufenthalts in Deutschland ‘vereinfachen und insgesamt beschleunigen’. Hinter dem bürokratischen Terminus verbirgt sich nichts weniger als die schnelle Abschiebung.” Ein absolutes Desaster und massiver Rückschritt hinter das bereits Erkämpfte. Und es geht weiter: Ein Tagesschau-Bericht vom 29.7.15 zitiert Manfred Schmidt, Präsident des BAMF, mit den Worten: “Wir müssen uns auch überlegen, ob nicht auch Länder wie Albanien und der Kosovo sichere Herkunftsländer sind.” Schmidt spricht sich weiter für ein Wiedereinreiseverbot von abgelehnten Menschen aus: “Die Wiedereinreise-Sperre würde diesen Drehtüreffekt – Ausreise, Wiedereinreise, wieder neuer Antrag – schlicht und ergreifend verhindern.” Auch Bangladesch, Pakistan (und Senegal, von dem ich dachte, es stünde schon auf der Liste) sollen hinzugefügt werden. Und: Deutschland geht nun auch militärisch gegen Schlepper vor. Ein Junge auf der Flucht wurde dabei bereits bei einer Schießerei auf dem Meer “versehentlich” getötet. Der Justice and Home Affairs Council der EU hat gestern, am 15.7.15, ein Papier verabschiedet, welches u.a. das Folgende beinhaltet (aus einem Report): “The Council has stressed that effective border control is imperative for the management of migration flows,” say the conclusions, and the Council will “further strengthen” Frontex’s ongoing TRITON and POSEIDON operations. Frontex will also deploy Rapid Border Intervention Teams (RABITs) “to reinforce the response capacity of the European Union at sensitive external borders in consultation with the Member States concerned… Measures will be designed to support frontline and transit countries.” Und: Es gibt gerade Massenabschiebungen in die sog. sicheren Herkunftsstaaten. Eine Stellungnahme des Flüchtlingsrates, die in Ansätzen ebenfalls das Zurückfallen hinter das bereits Erstrittene aufgreift, zum Versorgungs- und Integrationskonzept für Asylbegehrende und Flüchtlinge vom 11.8.15.
Deswegen ist es meines Erachtens auch kein Erfolg, wenn jetzt Politpromi A bis Politpromi Z sich genötigt fühlen, etwas pro Geflüchtete zu sagen. “Flüchtlingen zu helfen” hat dann einen inflationären Höhepunkt erreicht, wenn nun sogar unser Außenminister zum “Flüchtlingsfreund” wird oder aber gleich die gesamte CDU. Die gleichen Leute bzw. Parteien müssen sich mitverantwortlich erklären für die (zum Teil sogar verfassungswidrige) alte und gegenwärtige Verschärfung des Asylrechts, den Toten an unseren Grenzen, für die Repression gegen die politische Organisierung von geflüchteten/migrierenden Menschen, für die Räumung des O-Platzes, für die Benennung von sicheren Herkunftsstaaten, für die menschenunwürdige Unterbringung oder gar Inhaftierung von Menschen, die um Asyl bitten, … . Stattdessen ….!
Ich habe das Gefühl, als wären wir auf perfide Art eingebunden darin, Deutschland zum Willkommenskulturweltmeister zu machen. Und hier befinden wir uns in einem Dilemma, da dies natürlich nicht im Umkehrschluss heißen kann, dass wir eben nicht an weit entfernte Orte fahren, wenn wir davon ausgehen, dass es von Nöten ist oder eben keine so genannten Willkommensfeste feiern. Aber genau diese feuerwehrartigen Aktionen dürfen aus diesem Grund nicht unflankiert bleiben von Interventionen in derzeitige Politik und politische Diskursen; nur so kommen wir aus besagter Dilemmakiste raus. Aber irgendwie – und das kann auch aus meiner Perspektive aus der Ferne liegen – fehlt mir zur Zeit die Thematisierung dieser Ambivalenz und das strategisch intervenierende politische Handeln. Rückblickend auf die letzten Jahre der Geflüchteten-Kämpfe erscheint es eigentlich als Anachronismus, was gerade auf Gesetzesebene beschlossen wird.
Zynisch (excuse me) formuliert, scheint es gerade so, als würden alle aufatmen, wenn Nazis vertrieben worden sind oder Geflüchtete an Bahnhöfen willkommen geheißen wurden. Und wenn das so ist, dann haben wir gegen die Nazis, Rechts-Konservativen und Liberalen verloren. Um nicht in Missverständnissen zu landen: Ich argumentiere weder im Spektrum des Entweder-Oder (also nicht im Sinne von: wir sollten lieber das eine anstelle des anderen tun), noch will ich die derzeitigen Anstrengungen kleinreden, nichtig machen oder hierfür keine Anerkennung zeigen.
Die letzten Jahre wurde – zumindest auf linker Großgruppenebene – weder Anschluss an die Geflüchteten-Proteste gefunden noch gesucht – und letzteres ist das Drama und rächt sich an dieser Stelle. Nun wird das Terrain, welches Menschen erkämpft haben, unsichtbar gemacht. Es gibt keine starke, schlagkräftige Basis für Eingriffe in die derzeitigen Gesetzeskatastrophen. Dennoch gibt es in diesem Spektrum (also jenseits der organisierten deutschen Großgruppen)Leute, die weiterhin gegen und in Lager mobilisieren – nicht trotzdem sondern deswegen. Alles beschäftigt sich mit der Fehl-Administration und dem Finden von Unterkünften für Geflüchtete. Wenn heute jemand den Begriff “Unterkunft” hört, wird nicht mehr “Lager” und an die Forderung nach “Dezentralisierung” und die damit zusammenhängende Selbstbestimmung gedacht, sondern an “Nazis”, die es zu vertreiben gilt, oder an Schlangen von Menschen und es bahnt sich eine schleichende Akzeptanz von Lagern an. War die Ambivalenz der Lagerverteidigung in Berlin Hellersdorf noch spürbar, fehlt sie mir in Zeiten der Naziangriffe ein wenig: Wo sind die Forderungen nach all dem, was in den letzten Jahren hart mit- und untereinander erkämpft wurde? Sie gehen im Tumult unter.
Natürlich gibt es in dem ganzen Szenario und was daraus Neues entsteht auch gute Momente; wenn z.B. im Wintersemsester nun Geflüchtete an der HU Gasthörende sein dürfen (vielleicht ja ein Fuß in der Tür für die Forderung nach Bildung für alle); oder aber wenn Björn (17) und Hildegard (57) aus Ebersreuterunterhinterbachlingen Wasserflaschen an Geflüchtete/Migrierende verteilen, dann finden darin auch ganz eigene Begegnungen statt. Im letzeren können sich Einstellungen und Zugänge zueinander und schließlich auch Migrationspolitik ändern. Von linker Seite aus wird viel zu selten zugelassen, dass Menschen, die nicht explizit links sind, ein emotionales und intuitiv quasi linkes politisches Verhältnis zu Gesellschaft und Politik haben können, das auch Wert hat. Man muss nicht alles nach dem Linkeszenehandbuch angehen. Aber es kann auch nicht alles wieder zum Helfendiskurs zurückkehren – und hier meine ich nicht nur Hildegard und Björn, sondern auch die deutsche, Weiße Linke. Wir können nicht wieder bei minus 10 anfangen. Es kann nicht ignoriert werden, was in den letzten Jahren durch Kämpfe im Bereich Migration an Transformationen in linken Praxen in Deutschland in Bezug auf Sprechpositionen, Selbstermächtigung und Aneignungsprozessen stattgefunden hat.
Vielleicht hat das ganze Willkommenskulturspektakel insofern auch etwas Positives, als dass innerparteilich nun den linken Flügeln der Rücken gestärkt wird und sich dadurch Dinge nach vorne bringen lassen, die bisher unmöglich waren. Hier wäre dann ggf. auch eine Aufgabe der etablierteren linken Gruppen zu finden. Zumindest an der textlichen Oberfläche scheint sich medial punktuell etwas zu verschieben. Einen Lichtblick, auch gerade deswegen, weil er in der FAZ platziert ist, ist dieser Artikel hier. Aber was bedeuten diese zunächst positiven (dennoch sehr amivalenten und auch problematischen) Coverbilder des Spiegels? Wenn man sich die Mühe macht und bei Google-Bildersuche “Spiegel das Boot ist voll” oder “Spiegel Asyl in Deutschland” oder “Spiegel Türken” oder “Spiegel Ausländer” eingibst, zeigt sich die deutsche Hasstradition. Was bedeutet das nun, dass ein Medium, welches nicht nur Öl ins Feuer gegen “Ausländer” gießt, sondern mitzündelt, heute eine solche Serie herausgibt?
Es gibt natürlich keine klare Trennschärfe, vieles in den Bemühungen ist weder ausschließlich gut noch ausschließlich schlecht. Ggf. wurde in der derzeitigen Situation und den derzeitigen Debatte ein Territorium freigelegt, das positiv besetzt werden kann und vielleicht in Einzelteilen bereits progressiv besetzt wurde. Vielleicht ist dies die Zeit der Spielräume … Nur! Ich sehe gerade nicht wirklich, wie diese genutzt werden. Warum? Was sich im derzeitigen zäsurartigen Szenario am Ende tatsächlich als gut herausstellen wird, müssen wir wahrscheinlich noch herausfinden. Ich frage mich nur, warum wir nicht aktiver darin intervenieren? Es gilt Bruchstellen zu erkennen, sie zu nutzen und auszuweiten. Es gilt Widersprüche sichtbar zu machen. Das geht gerade an vielen deutschen linken etablierten Gruppen (hier meine ich nicht die Einzelpersonen und Gruppen, die aus den Organisierungsprozessen der Geflüchten-/Migrationskämpfe der letzten Jahre entstanden sind) vorbei und die Gestaltung wird den Konservativen/Rechten & friends überlassen. Und so machen ‘wir’ es irgendwie dadurch mit schlimmer. In diesen turbulenten Zeiten.
In all dem, was derzeit anders ist, erinnert es mich doch sehr an die 90er Jahre rund um Rostock/Lichtenhagen: Damals waren die Medien voller Hasstiraden und die Politik voller Hasstiraden. Heute lieben die Medien ‘Flüchtlinge’ und die Politik streichelt ‘Flüchtlingen’ vor ihrer Abschiebung den Kopf. Damals und heute stehen nicht tatsächlich im Kontrast zueinander, da beide Umgangsformen/Strategien massive (gesetzliche) Repression im jeweiligen gesellschaftlichen Setting erst ermöglichen. Sowohl in den 90erJahren als auch gegenwärtig werden neue Gesetzte verabschiedet, die für sehr viele Menschen eine Katastrophe sind und sie am guten Über-/Leben hindert.