Offener Brief „Decolonize Orientierungsrahmen!“ veröffentlicht

Eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Kultusministerkonferenz (KMK) hat 2007 den Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung veröffentlicht. Dieser hat sich in den letzten Jahren als Referenzrahmen für (außer-) schulische Aktivitäten des Globalen Lernens und der Bildung für Nachhaltige Entwicklung herauskristallisiert. In den letzten beiden Jahren wurde der Orientierungsrahmen von der Arbeitsgruppe überarbeitet und erweitert, allerdings ohne Kritiken v.a. aus postkolonialen und migrantisch-diasporischen Perspektiven aufzugreifen, die mehrfach u.a. auf gemeinsamen Podiumsteilnahmen, Anfragen, Publikationen zur macht- und rassismuskritischen Analysen zum derzeitigen Orientierungsrahmen eingebracht wurden. Nun steht seit Mitte Juli 2014 die überarbeitete Neufassung des Orientierungsrahmens zur öffentlichen Diskussion im Internet bereit.

glokal hat zusammen mit karfi, moveglobalBerlin Postkolonial und IMAFREDU die Sommerpause genutzt und Ende August in einem zweitätigen Arbeitstreffen gemeinsam die Neufassung des Orientierungsrahmen analysiert und und den Offenen Brief „Decolonize Orientierungsrahmen!“ verfasst. Über 80 migrantisch-diasporische, rassismuskritische und postkoloniale Initiativen, Organisationen, Verbände und Wissenschaftler_innen haben den Brief innerhalb von wenigen Tagen mit unterschrieben. Damit wird sehr deutlich, dass die Forderungen von einem breiten Bündnis aus Wissenschaft und Praxis getragen werden und dass migrantisch-diasporische, rassismuskritische und postkoloniale Perspektiven in Deutschland gehört werden müssen. Der Brief kann auch weiterhin gerne weitergeleitet und unterschrieben werden.

In unserer ersten Analyse sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass der Orientierungsrahmen – auch im Entwurf seiner Neufassung – seinem eigenen Anspruch und Ziel einer transformativen Bildung nicht gerecht wird.

Die zentralen Forderungen des Briefes lauten daher:

Forderung 1: Migrantisch-diasporische und zivilgesellschaftliche Fachleute sowie Expert_innen aus dem globalen Süden müssen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven aktiv und maßgeblich in die Überarbeitung des Orientierungsrahmens einbezogen werden.

Forderung 2: Der Orientierungsrahmen muss dahingehend überarbeitet werden, dass eine gender- und diskriminierungssensible (An-)Sprache benutzt wird, die die Realitäten in Deutschlands Klassenzimmern und in seiner Zivilgesellschaft zur Kenntnis nimmt und aktiv alle Schüler_innen (unabhängig von Herkunft, Schicht, Religion und legalem Status usw…) als Zielgruppe mitdenkt.

Forderung 3: Die theoretische Rahmung des Orientierungsrahmens muss seine ideologischen Grundlagen kenntlich machen, sich von seiner hegemonialen Perspektive verabschieden und Alternativen zum Entwicklungsparadigma und zum dominanten Nachhaltigkeitsdiskurs thematisieren.

Forderung 4: Analysekategorien wie Gender, Klasse und „Rasse“ müssen mitgedacht werden. Kapitalismus und Neoliberalismus als herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme müssen benannt und kritisch behandelt werden.

Forderung 5: Der Orientierungsrahmen muss die Geschichten von Versklavung, kolonialer Gewalt, Rassismus und wirtschaftlicher Ausbeutung, aber auch von Selbstbehauptung und Widerstand aufgreifen und dazu ermutigen, die 500-jährige – auch deutsche – koloniale Geschichte als unmittelbar die Gegenwart betreffend zu verstehen.

Forderung 6: Der Orientierungsrahmen muss seinem Anspruch, transformative Bildung zu ermöglichen, auch in der Formulierung von Handlungsoptionen gerecht werden. Dafür sollte allen an Schule Beteiligten ein Zugang zu emanzipatorischem Wissen und gesellschaftsverändernden Handlungsoptionen ermöglicht werden, um ihre Entwicklung zu mündigen und kritischen Menschen zu fördern.

Forderung 7: Sollen die im Orientierungsrahmen postulierten Ansprüche erfüllt und mit dem Werk tatsächlich zu einer gerechteren Welt beigetragen werden, kann der Überarbeitungsprozess nicht wie geplant bis Ende 2014 abgeschlossen werden. Vielmehr muss dieser Prozess unter Berücksichtigung der hier aufgeführten grundsätzlichen Defizite noch einmal neu und ergebnisoffen aufgerollt und in einen weitaus breiteren und kontinuierlichen gesellschaftlichen Dialog überführt werden.

Vom 3.-4. September 2014 findet eine öffentliche Anhörung in Bad Honnef zur Neufassung des Orientierungsrahmen statt. Wir werden die Perspektiven des Briefes dort einbringen und werden über alles weitere berichten.