In Leipzig ist am Sonntag die Konferenz „Selbstbestimmt und solidarisch! Konferenz zu Migration, Entwicklung und ökologische Krise“ zu Ende gegangen.
Drei Tage lang diskutierten im Leipziger „Westbad“ mehr als 700 Teilnehmende aus verschiedenen sozialen Bewegungen, auf welche Weise Flucht und Migration mit den vielfältigen ökologischen Krisen unserer Zeit sowie den vorherrschenden Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung zusammen hängen. Beteiligt waren unter anderem Initiativen, die zu Flucht und Migration, Bewegungsfreiheit, Klima, Kapitalismus, Landwirtschaft und Degrowth arbeiten – beteiligt waren auch viele Geflüchtete und Migrant*innen.
In 25 Workshops, auf vielen Podien, in zwei Theaterstücken, vier Ausstellungen und in offenen Diskussionsrunden ging es um Themen wie die Kriminalisierung von Migration, die Kämpfe von Frauen für selbstbestimmte Entwicklung, um die verheerenden Auswirkungen internationaler Handelsabkommen zwischen Afrika und Europa, und darum, wie der Klimawandel Fluchtursachen verschärft. Thema waren aber auch die Erfahrungen von Menschen auf der Flucht und die Situation Geflüchteter in Deutschland.
Rassistisch motivierte Polizeigewalt während der Konferenz
Überschattet wurde die Konferenz von rassistisch motivierter Polizeigewalt gegenüber zwei Referenten der Konferenz.
Die Referenten, die aus Kamerun kommen und in Deutschland leben, waren während der Konferenz in der Wohnung einer Tagesmutter untergebracht. Sie wurden von mehreren – offenbar von Nachbarn herbei gerufenen – Polizisten aus dem Schlaf geholt. Nachdem ein Referent die Tür geöffnet hatte, ging einer der Polizisten sofort gewaltsam auf ihn los, rief „Ausweis, Ausweis“ und verdrehte ihm gleichzeitig schmerzhaft den Arm – und dies, obwohl beide Referenten ruhig reagierten und sich gesprächsbereit zeigten. Einem der Referenten wurden sogar Handschellen angelegt. Erst nachdem die inzwischen herbei gerufenen Organisatoren der Konferenz mit den Polizisten sprachen, wurden die Referenten in Ruhe gelassen und die Polizei verließ den Ort.
„Ich wollte einen Freund anrufen, damit er mit der Polizei spricht, warum wir hier untergebracht sind und dass alles seine Richtigkeit hat“, berichtet der Referent Péguy Takou Ndie, „aber ich wurde gar nicht erst angehört. Mir wurde einfach der Arm so sehr nach hinten gebogen, dass ich heute noch Schmerzen in der Schulter habe.“
Der zweite der Referenten, Richard Djif, der aus Kamerun fliehen musste, weil er einen kritischen Dokumentarfilm zur dortigen Korruption und Unterdrückung gedreht hat, ergänzt: „Mich hat schockiert, dass die Polizisten sofort Gewalt angewendet haben, obwohl wir nur Schlafanzüge trugen und ganz offensichtlich nicht gefährlich waren. Ich fühle mich sehr unsicher in Deutschland, wenn rassistische Vorurteile bei der Polizei zu solchen Übergriffen führen. Eigentlich soll die Polizei doch für Sicherheit sorgen. Das erinnert uns daran, wie sehr man gegen Rassismus in der Gesellschaft Widerstand leisten muss.“
Organisatoren der Konferenz verurteilen Polizeigewalt
Das Organisationsteam der Konferenz – die Initiativen Afrique-Europe-Interact, Corasol und das NoStressTeam sowie das Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig, glokal e.V. und das Entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen – verurteilen die rassistisch motivierte Polizeigewalt. „Wir sind empört, weil es wegen Alltagsrassismus und Polizeigewalt unmöglich war, ungestört die Zusammenhänge von Migration, selbstbestimmter Entwicklung und ökologischer Krise zu diskutieren und konkrete Handlungsmöglichkeiten zu besprechen“, sagte Matthias Schmelzer vom Konzeptwerk Neue Ökonomie.
Die Konferenz: Beispiel für gelebte Solidarität
Die Konferenz zeigt, worauf es wirklich ankommt; Sie ist selbst ein Beispiel für gelebte Solidarität: Teilnehmende mussten keinen festen Teilnahmebeitrag zahlen, spendeten aber, damit Geflüchteten die Fahrtkosten erstattet werden konnten. Das Hostel „Multitude“ stellte Unterkünfte für einen Minimalbetrag zur Verfügung, andere Konferenzteilnehmer und -teilnehmerinnen kamen über die „Schlafplatzbörse“ privat oder mit geliehenen Schlafsäcken in Turnhallen unter. Essen wurde von ARKitchen gekocht, einer Gruppe selbstorganisierter Geflüchteter. Auch Dolmetscher und Dolmetscherinnen übersetzten alle Veranstaltungen ehrenamtlich simultan auf Englisch, Französisch und Deutsch. Der Veranstaltungsort „Westbad“ beherbergte die Konferenz mit großem Preisnachlass.
Stimmen zur Konferenz
Dora Sandrine Koungoyo Ndedi, Aktivistin bei Corasol und Gründerin des Magazins „Stimme“, Berlin, Mitorganisatorin der Konferenz
„Es ist ein großer Erfolg, dass wir zur Konferenz so viele Geflüchtete mobilisieren konnten. Wir haben über viele Problematiken gesprochen. Jetzt geht es darum, ganz konkret zu werden.“
Boniface Mabanza, Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika in Heidelberg
„Wer alle Krisen, mit denen wir es aktuell zu tun haben, isoliert voneinander betrachtet, hat ein riesiges Wahrnehmungsproblem. Das Boot, das am kentern ist, ist nicht nur das Boot der Geflüchteten, sondern das der gesamten Menschheit. Was die Menschen brauchen, sind Räume, in denen sie ihre Vielfalt entdecken und sich selbst organisieren können. Sie brauchen Räume, in denen sie die Veränderungen gestalten können, die sie selbst für notwendig halten und die nicht den Interessen von außen dienen.“
Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik Universität Wien
Forscht u.a. zu den Themen Globalisierung und Globalisierungskritik, Global Governance und Transformation des Staates, Umwelt- und Ressourcenpolitik sowie zu sozialen Bewegungen
„Die zerstörerische imperiale Produktions- und Lebensweise muss ganz grundlegend verändert werden. Dazu müssen die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme gleichzeitig bearbeitet werden. Die sozialen Bewegungen für globale Klimagerechtigkeit und für einen Ausstieg aus der Braunkohle in Deutschland sind Teil jener Auseinandersetzungen, die im globalen Süden gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen um jeden Preis gerichtet sind. Eine Ökologisierung der Landwirtschaft in Europa nimmt ganz unmittelbar den Druck auf das Land und die KleinbäuerInnen in Afrika, Asien und Lateinamerika, die ansonsten von den Agrarkonzernen verdrängt werden. Wir sollten die Diskussion um De-Globalisierung wieder aufnehmen, die vor 15 Jahren intensiv geführt wurde. Es geht darum, dass dem Lokalen und Regionalen Raum gelassen wird für eigenständige Entwicklungen gegen die globalisierende Macht der großen Konzerne und der sie stützenden Politik.“
Freweyni Habtemariam, Eritrean Initiative for Dialogue and Cooperation e.V.
„Eritrea ist ein reiches Land, nicht nur an natürlichen Ressourcen. Es ist schlimm, dass große Unternehmen das Gold Eritreas in Zusammenarbeit mit dem autoritären Regime ausbeuten. Noch schlimmer ist, dass damit die Ackerflächen und Wohnraum von Bauern und Bäuerinnen unwiederbringlich zerstört werden.“
Mercia Andrews, Direktorin von TCOE, Trust for Community Outreach and Education, Kapstadt, Südafrika
„Wenn wir über die Geschlechtergleichberechtigung im globalen Kontext reden, brauchen wir einen Feminismus, der den Kolonialismus mitdenkt. Das heißt, dass die Benachteiligung von Frauen auf dem afrikanischen Kontinent auch mit den Ungleichgewichten zwischen Europa und Afrika zu tun hat.“
Pressekontakt
Steffen Haag
Öffentlichkeitsarbeit „Selbstbestimmt & solidarisch!“
s.haag@degrowth.de
0151 – 53 73 36 82
Siehe auch die Pressemitteilung des Initiativkreis: Menschen.Würdig.
Mehr zur Konferenz
Die Themen Migration, Entwicklung und ökologische Krisen sind eng miteinander verwoben. Die politischen Diskussionen hierzu sind es aber bislang nicht. Das soll diese Konferenz ändern. Sie hinterfragt die gängige Argumentation, wonach die richtige Strategie darin besteht, mit Hilfe von Privatinvestitionen Wachstumsimpulse zu setzen und so Arbeitsplätze zu schaffen – um auf diese Weise langfristig die Zahl neu ankommender Geflüchteter zu reduzieren. Thematisiert wird, inwiefern das Wachstums- und Wohlstandsmodell der früh industrialisierten Länder des globalen Nordens globaler Gerechtigkeit und selbstbestimmter Entwicklung im globalen Süden entgegen steht – nicht zuletzt angesichts von extremer Ungleichheit und ökologischer Zerstörung.
Wie kann dagegen eine tatsächliche selbstbestimmte Entwicklung in den Ländern des globalen Südens aussehen? Welche Rolle spielt Bewegungsfreiheit hierfür? Wo liegen die Ursachen ökologischer und sozialer Krisen – und wie sehen Alternativen aus?
Selbstbestimmt und solidarisch
Die Konferenz steht unter dem Titel „selbstbestimmt und solidarisch“. Einerseits, um der Haltung zu widersprechen, die Entwicklung nur als Kopie des westlichen Modernisierungspfads begreift. Andererseits, um deutlich zu machen, dass globale Solidarität Voraussetzung für in der Gemeinschaft verankerte und an den wirklichen Interessen der Menschen orientierte Entwicklungsprozesse ist.
Mehr Informationen & Programm der Konferenz
Organisatoren der Konferenz
Afrique-Europe-Interact
Afrique-Europe-Interact ist ein kleines, transnational organisiertes Netzwerk. Beteiligt sind Basisaktivist_innen vor allem in Mali, Togo, Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Das Netzwerk unterstützt in seiner Arbeit einerseits Flüchtlinge und Migrant_innen in ihren Kämpfen um Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte. Andererseits beteiligt es sich an sozialen Auseinandersetzungen um gerechte bzw. selbstbestimmte Entwicklung. Es beteiligt sich mit Aktionen gegen die Militarisierung der EU-Außengrenzen oder Landgrabbing und unterstützt auf unterschiedliche Weise selbstorganisierte Proteste von Flüchtlingen und Migrant_innen in Europa.
Konzeptwerk Neue Ökonomie
Das Konzeptwerk ist ein basisdemokratisches und selbstverwaltetes Kollektiv in Leipzig. Es setzt sich als unabhängige und gemeinnützige Organisation für eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft und Gesellschaft ein. Und zwar aus der Überzeugung heraus, dass wirtschaftliche Tätigkeiten darauf ausgerichtet sein sollten, ein gutes und gleichberechtigtes Leben für alle zu ermöglichen und dabei die ökologischen Grenzen des Planeten zu respektieren. Die Aktivitäten des Konzeptwerks sind die Vernetzung von Akteur_innen, Bildungsarbeit und die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von sozialen Bewegungen, vor allem im Bereich alternatives Wirtschaften, Wachstumskritik, Degrowth und Klimagerechtigkeit.
glokal
glokal e.V. ist ein Berliner Verein für machtkritische Bildungsarbeit und Beratung, der seit 2006 in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig ist. Die Mitglieder möchten für globale und innergesellschaftliche Machtverhältnisse sensibilisieren. Diese verstehen sie als geprägt von u.a. kolonialer Geschichte und fortdauernden rassistischen Strukturen. glokal bietet unter anderem Seminare und Prozessbegleitungen für entwicklungspolitische Organisationen an, die ihre Arbeit in postkolonialer Hinsicht überprüfen und verändern wollen. Weiterhin stellt glokal Print- und Online-Ressourcen für die politische Praxis zur Verfügung (z.B. die Materialplattform www.mangoes-and-bullets.org).
Corasol
ist eine Gruppe von Menschen mit und ohne Aufenthaltsstatus, mit und ohne Flucht-/ Migrationserfahrung, die in Berlin und Brandenburg durch strukturell-politische Arbeit und gegenseitige Unterstützung versuchen, gegen Rassismen und weiße Dominanz in der Gesellschaft anzukämpfen. Corasol hat einen Antira-Einkauf in Henningsdorf veranstaltet, organisiert die monatliche Friedel-Vokü mit Informationsveranstaltungen zu Antira-Themen und macht kleine öffentliche Aktionen. Corasol kooperiert mit unterschiedlichen antirassistischen Gruppen in Berlin und Brandenburg.
Entwicklungspolitisches Netzwerk Sachsen
Das Entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen (ENS) ist ein Zusammenschluss von Vereinen, Gruppen und Initiativen, die sich für zukunftsfähige Entwicklung und weltweite Gerechtigkeit einsetzen. Gegründet hat sich der Verein 1995 und ist heute eine Plattform entwicklungspolitischer und interkultureller Initiativen in Sachsen. Die Akteure des ENS wollen sich auf den Weg machen hin zu einer gerechten, friedlichen und umweltbewahrenden Weltgesellschaft, die allen ein lebenswertes Dasein ermöglicht. Diese Ziele verfolgen sie durch Lobbyarbeit, Förderung der Zusammenarbeit regionaler, überregionaler und internationaler Organisationen, Beratung sowie Informations- und Fortbildungsangebote und Vermittlung entwicklungspolitischer Themen.
NoStressTeam
Stress ist für viele Geflüchtete eine Art Grundzustand. Vor diesem Hintergrund hat eine Gruppe Geflüchteter in Berlin und Brandenburg – darunter mehrere Aktivist_innen von Afrique-Europe-Interact – zwischen Juni und September 2016 in vier Flüchtlingslagern in Berlin und Bielefeld die NoStress-Tour durchgeführt. Ziel war es, mit niedrigschwelligen Angeboten wie Sport, Musik und Kinderprogramm die Lagerbewohner_innen aus ihrem Stress zu holen, dies jedoch in einem zweiten Schritt mit einer ausdrücklichen Empowerment-Perspektive zu verbinden. Zudem sollten mittels der NoStress-Tour Kontakte zu Nachbar_innen und Willkommensinitiativen aufgebaut werden.