Stellungnahme zum Feature „Musikalische Missionierung. Barockmusik aus dem Dschungel“

Am 30.08.2013 sendete der Deutschlandfunk das Feature „Musikalische Missionierung. Barockmusik aus dem Dschungel“. Lena Böllinger hat als Reaktion darauf einen Brief verfasst, den wir hiermit öffentlich machen wollen. Mehrere Organisationen haben ihn unterschrieben, unter anderem glokal.

Nachtrag: Judith Grümmer hat für den Deutschlandfunk eine Antwort verfasst, den Sie hier finden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe am 30. August 2013 Ihr Feature „Musikalische Missionierung. Barockmusik aus dem Dschungel“ im Deutschlandfunk gehört. Ich bin zutiefst entsetzt und empört über die Art und Weise der Thematisierung des Kolonialismus und der damit zusammenhängenden Missionierungstätigkeiten der Jesuiten. An keiner Stelle findet in Ihrem Feature eine kritische Reflektion des Zusammenhangs zwischen Missionierung, kolonialer Gewaltgeschichte und Rassismus statt. Statt dessen versucht das Feature Missionierung als „sanfte Kolonialisierung“ zu beschönigen und zu legitimieren. Damit aktualisiert und reproduziert es kolonial-rassistische Stereotype und weiße[1] Überlegenheitsfantasien.

Die Geschichte des Kolonialismus ist eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung. Die Unterwerfung und Auslöschung außereuropäischer Menschen und Kulturen erfolgte nicht nur durch militärische und physische, sondern auch durch epistemologische und ideologische Gewalt. Die Rassifizierung von Menschen in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen sowie die Idee eines europäischen Zivilisierungs- und Erziehungsauftrages, der – zur Not auch mit Gewalt – Freiheit, Fortschritt, Aufklärung und „(Hoch-)Kultur“ in die außereuropäische, vermeintlich unzivilisierte, kulturlose Welt bringen sollte, legitimierten das koloniale Projekt und seine unterschiedlichen Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen. Die rassistische Konstruktion eines aufgeklärten, europäisch-christlichen, weißen Subjekts, das aufgrund seiner angenommenen Überlegenheit das nicht-weiße, nicht-christliche und nicht-europäische Andere unterwerfen, versklaven, ausbeuten und erziehen darf, ist grundlegend für die koloniale Geschichte.

Entsprechend unsinnig ist die im Feature immer wieder vorgenommene Unterscheidung zwischen „guter“ und „böser“ Kolonialisierung. So werden die Tätigkeiten der Missionare in der Chiquitania abgegrenzt von den militärischen und physischen Gräueltaten der übrigen Kolonisatoren. Anders als die „spanischen Sklavenjäger“ hätten die Missionare eine „sanfte Kolonialisierung“ betrieben, eine „Missionierung mit menschlichem Antlitz, auf das auch die Nachfahren der Europäer ein wenig stolz sein könnten“. Und an anderer Stelle ist von einem „humanen Beispiel von Christianisierung“ die Rede. Diesem Euphemismus ist zu widersprechen. Die Missionierungstätigkeiten sind Teil der Kolonialisierung, sie sind Teil der Aktivitäten der „spanischen Sklavenjäger“, weil sie auf denselben rassistischen Grundannahmen weißer Überlegenheit und nicht-weißer Rückständigkeit beruhen, die den Kolonialismus insgesamt legitimier(t)en.

An anderer Stelle lässt das Feature Pater Fleindl zu Wort kommen: „Die Jesuiten haben die Leute aus dem Wald geholt, sesshaft gemacht, dann mit ihnen eine gute Kirche gebaut und die Leute in einem einfachen System zur Arbeit gebracht. (…) Aber es waren auch Sachen der Kultur. Sie haben aber auch Lesen und Schreiben auf Spanisch gelernt und sie haben gelernt, Musikinstrumente herzustellen. (…) Dass diese einfachen Menschen aus dem einfachen Milieu des Waldes es zu solchen Höhen in der Musik gebracht haben, das kann man nur so verstehen, dass es eine wirkliche Zusammenarbeit gewesen ist zwischen den Menschen und den Missionaren. (…)“. Auch Padre Santos wird mit der Behauptung zitiert, das Leben habe sich „mit Ankunft der Missionare (…) deutlich verbessert“. Schließlich kommentiert auch das Feature selbst: In Schutzgebieten wollten die Missionare „die bis dahin völlig nackten nomadischen ‚Urwald-Indianer‘ mit Gottes Hilfe und Geigenklängen, mit Pauken und Trompeten bekehren und bekleiden, in Dorfgemeinschaften sesshaft machen und bilden“. Die Autorin des Features kommentiert die Freude des Verantwortlichen für die Instandhaltung der Kirchen über ihren Besuch mit den Worten: „Schließlich kommen nicht jeden Tag Europäer ins Dorf, die sich für seine Arbeit interessieren“. Diese Zitate bringen nahezu prototypisch die Ideologie weißer Überlegenheit und die Abwertung nicht-weißer, nicht-europäischer kultureller Kontexte zum Ausdruck: Woher nimmt die Autorin die selbstverständliche Annahme, ihr Besuch als Europäerin sei ganz besonders hervorzuheben und wertzuschätzen? Worin genau besteht der zwangsläufige Vorteil der Menschen, sesshaft zu sein, wenn sie bis dahin an nomadische Lebensweisen gewohnt waren? Worin der Vorteil der Kirche? Warum ist es „gut“, diesen Menschen eine Kolonialsprache aufzuzwingen und die Muttersprache auszulöschen? Inwiefern hat sich das Leben der Menschen „verbessert“? Woher weiß die Nachwelt das eigentlich so genau? Über „Kultur“ bzw. Kulturlosigkeit wird hier anhand der Maßstäbe der europäischen Missionare entschieden und so haben die so bezeichneten „einfachen Menschen“, gemäß der kolonialen Logik, nur dann eine Kultur, wenn der weiße Mann so gnädig war/ist, sie in die europäische Hochkultur einzuführen.

Es ist sodann auch diese europäische Vorstellung von Hochkultur (die Kirchen, die klassische Musik), die in dem gesamten Feature als besonders schützenswert und wertvoll dargestellt wird. Auf vorchristliche Traditionen wird nicht eingegangen. An keiner Stelle wird kritisch reflektiert, warum die UNESCO ausgerechnet ein Dorf, das so sehr von kolonialen Einflüssen geprägt ist, auf die Liste der Weltkulturgüter setzt. Warum hat diese Liste insbesondere Platz für „koloniale Schätze“, für die vermeintlichen Errungenschaften der Europäer? Wer entscheidet eigentlich, was Kultur und Weltkulturerbe ist und was nicht? Das Feature gibt selbst eine indirekte Antwort auf die Frage, wer eigentlich wen bzw. was mit der Aufnahme in die Liste der Weltkulturgüter würdigt: „Als die UNESCO 1990 das Lebenswerk des Architekten Hans Roth würdigte (…), da waren nicht nur die Kirchen gemeint, sondern ausdrücklich auch die „reducciones“ als Ganze, die Lebensweise ihrer Bewohner, ihre Kultur, ihre Tradition“. Es geht also einerseits um das „Lebenswerk“ eines weißen Europäers und um die christlich-europäische – und nur um diese – Tradition und Kultur der missionierten Einheimischen.

Gleichzeitig erscheint in der Darstellung des Features die klassische Musik, die auf die Missionierungstätigkeit der Jesuiten zurückgeht, als einzige Chance, auch der heutigen bolivianischen Jugend eine Perspektive zu ermöglichen. Einzelne Schüler und Schülerinnen werden hervorgehoben, denen ein Konzert im europäischen Ausland ermöglicht worden war oder die ein Musikstudium anstreben. Für wie viele Schülerinnen und Schüler dieser Traum aus wirtschaftlichen Gründen unerreichbar bleibt, wird nicht thematisiert.

Immer wieder wird im Feature lobend erwähnt, das Musizieren halte die Jugendlichen von Alkohol, übermäßigem Fernsehen und Kriminalität ab und gebe ihnen eine Zukunft. Es soll an dieser Stelle nicht geleugnet werden, dass die klassische Musik den Jugendlichen Freude bereiten kann oder das Musizieren als sinnvolle Tätigkeit erscheinen kann. Was jedoch hier wie auch im gesamten Feature fehlt, ist die Thematisierung der gewaltvollen und brutalen Geschichte, aufgrund derer im Tiefland Boliviens, in den Dörfern der Chiquitania heute Barockmusik gespielt wird. Die postkoloniale Theoretikern Spivak stellte einst einen vielleicht schockierenden, aber dennoch treffenden Vergleich für Zusammenhänge wie diesen an: Wenn ein Kind, das Produkt einer Vergewaltigung ist, eines Tages dennoch zu einem „glücklichen“ Menschen heranwächst, stellt das noch lange nicht infrage, dass es sich bei einer Vergewaltigung um ein schreckliches Verbrechen handelt. Ähnlich verhalte es sich mit dem Zusammenhang zwischen kolonialer Vergangenheit und den vermeintlichen Wohltaten des Kolonialismus, die heute erst erkennbar seien.

In diesem Sinne bitte ich den Deutschlandfunk, künftig auf eine sensiblere Darstellung der Kolonialgeschichte zu achten und die Reproduktion und Aktualisierung kolonial-rassistischer Stereotype und weißer Überlegenheitsfantasien konsequent zu vermeiden. Ich würde mich über eine Rückmeldung Ihrerseits freuen.

Zu Dokumentationszwecken führe ich den Briefwechsel öffentlich.

Mit freundlichen Grüßen,
Lena Böllinger

Mitunterzeichner_innen:
* Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. (http://www.isdonline.de)
* glokal e.V. (https://www.glokal.org/)
* Informationsbüro Nicaragua e.V. (http://www.informationsbuero-nicaragua.org/neu/)
* AG Postkolonial Leipzig (http://engagiertewissenschaft.de/de/inhalt/AG_Postkolonial)
* Berlin Postkolonial e.V. (http://www.berlin-postkolonial.de)

[1] Die diskursive Schreibweise soll darauf hinweisen, dass es bei der Kategorie weiß nicht um die Thematisierung von Hautfarben oder vermeintlich biologischen Unterschiede geht, sondern vielmehr um die rassistische soziale Konstruktion, die weiß-Sein mit Überlegenheit, Fortschrittlichkeit, Zivilisiertheit etc. assoziiert.